Premiere: 12. Dezember 2009
Was bleibt, wenn einem alles genommen wird, wenn selbst das Ich abhanden kommt? Feldherr Amphitryon hat den Krieg gegen die Athener gewonnen. Sein Gefährte Sosias soll Alkmene mit der Nachricht dieses Erfolges auf die Rückkehr ihres Gatten vorbereiten. Im nächtlichen Dunkel jedoch begegnet Sosias sich selbst, das heißt: dem Gott Merkur, der aussieht wie Sosias, und der ihn davon überzeugt, nicht er selbst zu sein, und ihm seine Identität stiehlt.
Zuhause angekommen muss auch Amphitryon erfahren, dass er bereits da war. Alkmene höchstpersönlich erzählt ihm von der traumhaften Liebesnacht, die er gestern angeblich mit ihr verbracht habe. So ringt er, betrogen von sich selbst, um Selbstgewissheit. Auch Alkmene gerät über den tragischen Zweifel, mit welchem Mann sie die Nacht verbrauchte, in existentielle Nöte. Hin und her gerissen zwischen Ver- und Misstrauen, was die Unfehlbarkeit des inneren Gefühls anbelangt, kämpft Alkmene um die Liebe und um Amphitryon. Wie im Blindflug agieren die Menschen in diesem Stück, da Ihnen jedes Koordinatensystem für wahr und falsch – selbst das der eigenen Gefühle – genommen wurde.
Im Großen Haus des Deutschen Theaters in Göttingen hat Regisseur Jasper Brandis Heinrich von Kleists „Amphitryon“ als eine Suche nach dem verlorenen Ich inszeniert. (...) Das
Bühnenbild von Monika Rupprecht - es besteht nur aus einem Turm - ist gewollt karg. Umso bühnenfüllender ist das Spiel der Schauspieler.
Ein Stück um das innere Ringen mit langen Satzpassagen, dann wieder Wortabbrüchen, könnte ermüden. Tut es aber nicht. Denn die unglaubliche Präsenz der Spieler umschifft diese
Gefahr.
Katharina Heyers Alkmene verzweifelt ob der Frage, mit wem sie eigentlich die Nacht verbracht hat. Ihr Schreien und ihre Tränen berühren dabei ungemein. Pröhls hochroter Kopf,
sein „Außer sich sein“ ist komisch und erschreckend zugleich. Und Eppinger verkörpert den eitlen Gott, der nicht nur angebetet, sondern auch um seiner selbst Willen geliebt werden
will, überzeugend. Wobei jeglicher Pathos der Götterwelt durch die Ausstattung - ein ordinärer Zollstock wird eben mal zum Donnerkeil erklärt - und durch Wennings komisches
Auftreten als mehr genervter, denn sakrosankter Götterbote eliminiert werden. Großartig auch Zinck als Sosias, der die Mischung aus Frechheit und Unterwürfigkeit kongenial
spielt.
Regisseur Brandis und Dramaturg Lutz Keßler zeigen eine Inszenierung, in der Menschen an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben werden. Und in der die tragischen Momente
lustig, und die lustigen tragisch sind. Am Ende bleibt nur das resignierte „Ach“ von Alkmene.
Was brauche ich, um Ich zu sein? Woran erkennen mich andere? Heinrich von Kleists gleißend schöner Text darf in Brandis' Inszenierung funkeln, wird nicht von
Regie-Schnickschnack übertüncht oder von der Ausstattung erschlagen. (...)
Dass hier ein Schauspiel aufgeführt wird, ist den Figuren im Scheinwerferlicht jederzeit bewusst - auch hier lauter Ich-Konstruktionen. Großartig hintergründig gemacht. Bei allem
Ernst wird in den zwei Lustspiel-Stunden viel gelacht.