Die Wucht aus dem Nachlass
von Tobias Prüwer
Plauen, 21. März 2015. Etwas muss dran sein an diesem Klassiker. Münchner Kammerspiele, Schauspiel Leipzig, Schauspiel Hannover; die Serie von "Maria Stuart"-Inszenierungen an deutschsprachigen Theatern allein in den letzten Wochen ist lang. Und nun Plauen. Hier macht mitRoland May der Intendant des Theaters Plauen-Zwickau selbst die Probe aufs Exempel, wie sich Schillers Werk im Spannungsfeld von Kanonanspruch für Schulklassen/Schillerfans und freimütigem Regiezugriff in die Gegenwart einfügen lässt.
Ränkespiele um den englischen Thron
Von Beginn an punktet der Abend von May mit zweierlei: mit starken Bilder und einer noch stärkeren Maria Stuart. Vor der Verdächtigung, ihren Mann ermordet zu haben, war die schottische Königin nach England geflohen, aber das Asyl entpuppte sich als Mausefalle. Throninhaberin Elisabeth setzte Maria fest; immerhin verfügt die Stuart auch über Ansprüche auf den englischen Herrscherstuhl. Jetzt sind die politischen Lager uneins, wie sie mit der inhaftierten potenziellen Potentatin verfahren sollen. Letzte Ränkespiele setzen ein. An ihrem Ende wird die Stuart hingerichtet – in Plauen bildlich behutsam symbolisiert von Marias eingetütetem Nachlass, den die Drehbühne vorbeifährt.
Marias Tod ist nicht nur in dramatischer Hinsicht der Höhepunkt. Wie sie da steht im weißen Büßergewand, das Ende vor Augen, ist ein ergreifend intimer Moment. Wenn Maria danach durch eine Klappe in der Bühne die Treppe zum Schafott hinuntersteigt, werden an ihr Angst und Stolz, Verletzlichkeit und Haltung zugleich sichtbar. Unpathetisch, in Schönheit und Schrecken lässt Anja Schreiber ihre Schottenkönigin untergehen. Im ersten Auftritt hatte sie sie noch als selbstbewussten Trotzkopf vorgeführt; die Verzweiflung wuchs mit der Zeit. Schreiber steigert den Ausdruck ihrer Figur im Verlauf des Spiels, das oft präzise bis in die Fingerbewegungen ist. Auch die heute eher gestelzt klingende Klassikersprache bekommt sie in den Griff.
"Engelland"!
Da sind nicht alle Ensemblemitglieder handwerklich so sicher, fallen manche Wortwechsel als Aufsagetheater aus. Ein landläufiges Zitat wird dann schon mal mit besonderer Sorgfalt betont, und immer wieder dieses "Engelland"! Dieter Maas als Graf von Shrewsbury und Gilbert Mieroph als Großschatzmeister gewinnen rhetorisch dem Text am meisten ab. Vielleicht liegt das daran, dass sie in weniger lächerlichen Kostümen stecken als die anderen. Angekitscht etwa tritt der Graf von Leicester mit weißer Schmalzlocke und Glitzerjeans auf, der französische Gesandte wurde in Blümchenleggins gesteckt – "Drama, Baby" schreit es optisch aus ihm heraus.
Völlig zum comichaften Charakter ist die Elisabeth überzeichnet, nicht nur, wenn sie mit einem Reithosen-Reifrock-Hybrid ihren Jagdausflug bestreitet. Eingeengt im flammenden Rot zusammengesteckter Haare und gespensterhaft bleich geschminktem Gesicht mit rotem Mundkreis bleibt Else Henning nicht viel Raum für variierende Mimik. Leicht piepsend im Ton hat diese Machtpolitikerin Anstriche der naiv-geltungsbedürftigen Plaudertasche Yvonne aus derOlsenbande. Das ist irgendwie – wohl ungewollt – lustig, fällt aber aus dem Rahmen des sonst ernsten Agierens. Beim Showdown der beiden Königinnen wird sie von einer energetischen Maria darum auch an die Wand gespielt.
Klassiker ohne Botschaft
Man kann in der Grundintention, dem Text zu folgen, statt ihn mit bemühten Aktualisierungsversuchen zu spicken, eine gute Entscheidung sehen. Das macht das Geschehen aber auch oft distanziert, bis der nächste Maria-Auftritt wieder Unmittelbarkeit schafft. Im schnörkellos-schicken Bühnenbild, das sich zwischen kupfern getäfelten Herrschaftsräumen und schmutzig geweißelten Haftkellern verwandeln lässt, bleiben einige Szenen zu blass, um dem Text Leben zu verleihen.
Wenn die fortwährenden Machtspiele mittels Stühle-Rücken illustriert werden, ist das einleuchtend. Warum aber bricht der Regisseur damit irgendwann ab? Um den Abend mit Längen nicht noch mehr zu strecken? Museal wirkt er nicht, aber doch auch nicht frei genug im Zugriff. Zu oft zeugt er von der Hilflosigkeit, wie man heute mit dem traditionellen Literaturtheater umgehen soll. Für Schulklassenbesucher, für Schillferfans?
Nachtkritikerin Cornelia Fiedler hielt vor einigen Wochen für die Münchner Kammerspiel-Inszenierung von Andreas Kriegenburg fest: "Über dem gesamten Abend scheint der große Wunsch zu schweben, ein Humanismus-Klassiker wie 'Maria Stuart' müsse doch irgendwie für sich selbst sprechen, seine zeitlose Wucht beweisen. Nur wem?" Für Plauen gilt das Gleiche.